Wenn Holger Labahn von Nähbesteck spricht, meint er damit ganz sicher nicht Nadel und Faden, um einem Kleidungsstück die passende Form zu geben. Mit seinem Nähbesteck steigt Holger Labahn den Menschen vielmehr buchstäblich aufs Dach. Denn als Rohrdachdecker sorgt er dafür, dass das Inselbild der idyllischen Fischerhäuschen erhalten bleibt. Gerade in den vier Bernsteinbädern Zempin, Loddin, Ückeritz und Koserow sind sie nämlich noch zuhauf zu finden, die alten, mit Schilfrohr gedeckten Häuser, die den Orten in der Inselmitte diesen unvergleichlich urigen Charme verleihen.
Damit der auch in Zukunft bewahrt wird, besteht in einigen Gebieten sogar die Auflage, neue Wohn- und Ferienhäuser mit Reet einzudecken. Denn Reetdächer gehören nicht nur zum typischen Usedomer Inselbild, sie isolieren im Winter auch besonders gut und heizen sich im Sommer weniger auf. In Sachen Nachhaltigkeit sind sie daher unschlagbar. Auch natürlich, weil sie aus Naturmaterial bestehen.
Dabei sagt man auf Usedom gar nicht unbedingt Reet. „Der Begriff ist eher im Westen gebräuchlich. Bei uns sagt man Rohr“, erklärt der Dachdecker Holger Labahn, der sich explizit auf die traditionelle Deckweise spezialisiert hat. Viele seiner Zunft gibt es auf Usedom nicht mehr. Nur drei bis vier sind es direkt auf der Insel. Kein Wunder. Denn die Arbeit ist mühsam. „Klar, du bist bei Wind und Wetter draußen, brauchst Kraft und musst schwindelfrei sein“, erzählt Holger Labahn, „aber du hast auch eine fantastische Aussicht. Fast immer Seeblick.“
Dabei ist der Loddiner eigentlich ein Quereinsteiger. Für den gelernten Trabantschlosser gab es nach der Wende keine Arbeit mehr. Also sattelte er um. Für Rohrdächer hatte er sich schon vorher begeistert. Sein Elternhaus in Loddin ist selbst mit Schilfrohr gedeckt. Und als Jugendlicher hat er seinem Vater oft geholfen, es auszubessern.
„Früher haben die Leute ihre Dächer ohnehin immer selbst gedeckt und geflickt. Das Rohrdach war ein Armeleutedach“, weiß er zu erzählen. Die Fischer und Bauern der Gegend hätten das Rohr im Winter auf dem Eis mit einem Schuf abgeschoben oder mit der Sichel abgeschnitten und im Frühjahr und Sommer auf ihre Dächer gebracht. Inzwischen werden überwiegend Maschinen zur Ernte verwendet, die das Schilf auch gleich reinigen. „Und heutzutage deckt natürlich niemand mehr selbst sein Dach“, so Holger Labahn.
Seit 1992 ist er Rohrdachdecker. Seit 2001 hat er seine eigene Firma. Drei fleißige Helfer sind bei ihm angestellt. Über mangelnde Aufträge können sie sich nicht beklagen. Zwar halte so ein Rohrdach länger als ein normales Ziegeldach. „Aber viele wollen, dass es auch nach zehn Jahren noch aussieht wie neu“, sagt er. Darum gehört auch das Reinigen der Dächer zu ihren Aufgaben. Und nach 30 bis 50 Jahren braucht auch das langlebigste Dach eine neue Ladung Rohr.
Sein Baumaterial bezieht Holger Labahn ausschließlich von Rügen. Da es in Deutschland jedoch nicht mehr allzu viele Firmen gibt, die in die teuren Maschinen für die Schilfernte investieren, schwindet die Zahl der Schilfbauern ebenfalls. „Mir graut schon davor, dass mein Lieferant eines Tages aufhört“, gesteht der Usedomer. Einige Dachdecker bezögen ihr Rohr schon aus Ungarn oder sogar China.
Das Schilfrohr, das in geschnürten Bunden geliefert wird, wird von den Rohrdachdeckern auf die Dachlatten aufgelegt und dann so verschoben und mit einem Klopfbrett in Form gebracht, dass die unteren Halmenden einen gleichmäßigen Abschluss bilden. Bei dieser Arbeit kommt auch das bereits erwähnte Nähbesteck zum Einsatz. Es besteht aus einem Ober- und einem Unternäher, mit deren Hilfe die einzelnen Rohrbunde mit einem Draht an den Dachlatten „festgenäht“ werden. Mehrere Lagen bilden schließlich eine knapp 30 Zentimeter dicke, überlappende Schicht, die kein Wasser mehr durchlässt. Zehn bis zwölf Bunde Rohr braucht man für einen Quadratmeter Rohrdach. Das ist also eine Menge Stroh auf der Hütte.
Natürlich habe er auch schon ungewöhnliche Häuser gedeckt. An ein rundes Dach in Wilhelmshof bei Westklüne kann er sich noch gut erinnern. Aber am liebsten hat Holger Labahn die richtig alten Fischerkaten. „Zu sehen, wie so ein altes Haus mit einer Seele und einer Geschichte wieder in neuem Glanz erstrahlt, lässt einem das Herz aufgehen“, schwärmt er. Der Loddiner kann und will sich gar keinen anderen Beruf für sich vorstellen und er hofft, dass er ihn trotz der harten Arbeit noch sehr lange ausüben kann.