Vereine, die Geschichte schreiben

Als die Bernsteinbäder noch Fischerdörfer waren

Ein schier endlos langer und weißer Sandstrand ist etwas Feines. Er ist der Sehnsuchtsort für viele Menschen, die von Erholung und Entspannung träumen. Wie gut, dass die vier Bernsteinbäder davon reichlich vor der eigenen Haustür haben. Doch die Menschen, die die vier Seebäder in der Usedomer Inselmitte so lieben, wissen auch, dass es hier noch sehr viel mehr, als nur das Rauschen der Ostsee zu erleben gibt.

Wenn man sich für den Ort, in dem man Urlaub macht, wirklich interessiert und ein paar Insidertipps ergattern möchte, ist es am besten, sich an einen Insider zu wenden. Heimatvereine bergen wahre Schätze an Insidertipps, an Geschichten, aber auch an Menschen, die etwas über ihre Orte erzählen können. In ihnen findet man wahre Urgesteine, die wissen, wie es in den vier Bädern früher einmal ausgesehen hat, wie es hier zuging und wo es ganz besonders schön ist.

Ihnen und ihren Geschichten zu lauschen, ist nicht nur, als tauche man in eine andere Zeit ein, sondern erhalte sogar die Erlaubnis, in das ganz persönliche Tagebuch eines Inselkindes zu linsen.

Da gibt es zum Beispiel die Zempinerin Hilde Stockmann, die gerne über den Deich zum Atelier von Otto Niemeyer-Holstein spaziert oder am Zempiner Hafen bei der 400 Jahre alten Eiche sitzt und über das Achterwasser schaut. Hilde Stockmann ist zwar kein waschechtes Inselkind, aber in den fast 50 Jahren, die sie mittlerweile auf Usedom lebt, ist sie auf der Insel so verwurzelt und vernetzt, dass kaum noch jemand weiß, dass sie ursprünglich aus Sachsen stammt. Sie war sogar drei Wahlperioden lang Bürgermeisterin von Zempin. Die Seniorin liebt ihre Wahlheimat so sehr, dass sie alles sammelt, was mit der Geschichte des kleinen Fischerdorfes zu tun hat.

Ihr Wissen teilt sie nicht nur auf der Internetseite ortschroniken-mv.de mit Geschichtsfans aus ganz Deutschland, sondern auch mit jedem ortsinteressierten Besucher des kleinen Heimatmuseums „Uns olle Schaul“, Fischerstraße 11, in Zempin. Bis 2000 war das Haus in der Ortsmitte noch eine echte Schule. Seit deren Auszug befindet sich in dem alten Gemäuer ein Vereinshaus mit einer ganz besonderen Ausstellung. „Neben einem originalgetreuen Kaufmannsladen von 1928 beherbergt eines der ehemaligen Klassenzimmer heute eine detailreiche Zusammenstellung der Usedomer Fischereigeschichte“, erzählt die umtriebige Ortschronistin.

Die Sammlung ist einzigartig, denn der Fischer Konrad Tiefert hat die ausgestellten Modelle der alten Fischerboote selbst angefertigt – trotz seiner damals bereits 80 Jahre. 35 sind es an der Zahl und Tiefert hat sie alle aus dem Gedächtnis heraus aus Obstkisten, Sperrholz und Fischereimaterial gebaut.

Hilde Stockmann liebt die Ausstellung. „Solch eine umfassende Zusammenstellung der Fischereigeschichte gibt es auf ganz Usedom nicht noch einmal. Und außerdem ist jedes Boot ein kleines Kunstwerk“, schwärmt sie. Wenn die fidele 85-Jährige über die Geschichten und die Menschen ihres Dorfes erzählt, leuchten ihre Augen. Dann ist sie voll in ihrem Element. Kein Wunder, dass sie die Vorsitzende des kleinen Heimatvereins ist, der 1994 mit einer Eierbecherausstellung begonnen hatte und sich seitdem für den Erhalt eben jener Ortsgeschichten einsetzt.

Ähnlich wie Hilde Stockmann gibt es auch in den anderen Bernsteinbädern echte Urgesteine, die so viele Geschichten zu erzählen wissen, dass sie dicke Bücher füllen könnten. Ein solches Geschichtenbuch hat in Loddin Ulrich Knöfel zusammengetragen. Der einstige Fotograf ist emsiger Ortschronist und engagiert sich im Loddiner Heimatverein, der im Bahnhof von Kölpinsee – einem Ortsteil von Loddin – eine Heimatstube mit vier Ausstellungsräumen mit Exponaten zum Leben und Arbeiten in dem Fischerdorf am Achterwasser betreibt. Ulrich Knöfel zuzuhören und seinen Geschichten zu lauschen, macht süchtig und bringt so manches Mal ins Staunen.

Der kleine Verein, in dem er sich engagiert, ist sehr unternehmungslustig, richtet mit viel Herzblut im Seebad Feste wie das jährliche Erntefest aus, hatte früher sogar eine plattdeutsche Singegruppe, mit der sie auf der ITB in Berlin aufgetreten sind und organisiert zu verschiedenen Themen in der Heimatstube im Bahnhof Ausstellungen. „Unsere Kaffeeklatsch-Ausstellung oder die Ausstellung ‚Kleider im Wandel der Zeit‘ kamen bei den Loddiner und auch bei Urlaubern super an“, erinnert er sich zusammen mit der Vereinsvorsitzenden Maritta Schneeweiß.

Zur Ortsgeschichte kam der vielseitig begabte 86-Jährige durch seinen Vater. Wenn er nicht gerade auf dem Loddiner Höft spazieren ging, tippte er mit dem berühmten Zweifingersuchsystem die aufgeschriebenen Geschichten seines Vaters ab und erweiterte sie zunehmend selbst, in dem er sich mit den alten Fischern und Bauern des Dorfes zusammensetzte. Seine Loddiner Ortschronik erschien 2006 im Nordlicht Verlag. Doch damit nicht genug. Immer wieder findet er neue Dokumente oder Menschen kämen mit Geschichten zu ihm. „Es wäre zu schade, wenn all das verloren ginge“, sagt er. Denn durch diese Geschichten bleibe der Ort lebendig.

Allein die Geschichten aus Ulrich Knöfels Kindheit könnten Abende füllen. Wenn er vom Rodeln auf dem Loddiner Höft oder dem Blick von der Spitze bis zum Gnitz oder dem Lieper Winkel erzählt, vergisst man die Zeit.

„Wenn die Großeltern alt werden, kommt bei vielen das Interesse daran, wie das Leben wohl früher ausgesehen hat“, erzählt Michael Bartelt aus Ückeritz. Auch er sammelt alles, was er über die Geschichte seines Heimatortes finden kann. Seit 2015 ist er zudem Vorsitzender des Ückeritzer Heimatvereins, der sich zusammen mit der Plattdütschen Run‘n für den Erhalt der Ückeritzer Ortsgeschichte einsetzt.

Dabei betreibt der Verein nicht nur die Heimatstube in der Alten Schule, Strandstraße 3, mit einer Ausstellung zur Ostgeschichte, sondern richtet auch das alljährliche Kartoffelfest aus oder veranstaltet Kaffeeklatschnachmittage, Lesungen auf Platt oder Vorträge. Michael Bartelt freut sich darüber, dass über die Facebook-Seite des Vereins auch jüngere Menschen an den Aktivitäten teilhaben. Und auch der Kontakt zur Ückeritzer Kita "Dei lütten Waldgeister" mit gegenseitigen Besuchen und dem Weitergeben plattdeutscher Lieder an die Kinder gehöre zum Programm des Vereins.

Michael Bartelt schaut von der Terrasse seines Fischrestaurants „Utkiek“ auf der Ückeritzer Düne über die Ostsee. „Der Übergang von der Steilküste mit seinem Buchenwald hin zur Flachküste ist schon etwas Besonderes und zu jeder Jahreszeit anders schön“, schwärmt er über seinen täglichen Arbeitsausblick. Es macht Spaß, die Menschen – ob einheimisch oder Gast – für das Leben im Dorf zu begeistern, sagt er. Er muss es wissen. Denn als Strandkorbvermieter und Gastronom ist er ganz nahe dran, an der wunderschönen Natur der Insel, aber auch am zuweilen quirligen Leben im Seebad.

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